«Wir müssen alle über unser Verhalten nachdenken»
Erfurter Amoklauf Hauptthema am ersten Schultag nach der Tat
Stolberg. Es war kein Tag wie jeder andere: Als in den Stolberger Schulen am
Montag der Unterricht begann, gab es nur ein Thema: Der Amoklauf von Erfurt,
seine Ursachen und möglichen Auswirkungen.
«Wir haben einen großen Gesprächsbedarf ausgemacht», berichtete Stefanie
Luczak. Deshalb reagierte die Schulleiterin des Goethe-Gymnasiums umgehend:
«Der Tag ist der Verarbeitung gewidmet», teilte sie Schülern und Lehrern mit
und stellte ihnen den gesamten Unterricht zur Verfügung, um das Drama und
den Umgang mit dem Geschehenen zu thematisieren.
Am Ritzefeld-Gymnasium hätten sich zur gleichen Zeit viele Schüler der
Jahrgangsstufe 13 diese Möglichkeit sicherlich gewünscht. Sie aber sahen
sich just in der Situation, in der der Täter aus Erfurt am Freitag seine
ehemalige Schule aufgesucht hatte: «Wir haben heute schriftliches Abitur im
Haus», konstatierte ein sichtlich betroffener Schulleiter Burkhart Klein.
«Unsere Lehrer haben mit den Abiturienten vor der Prüfung Gespräche geführt
und versucht, ihnen mögliche Ängste zu nehmen.» Derweil vermeldeten die
Radio- und Fernsehstationen von einem Drohbrief, der mit der Ankündigung
einer Gewalttat bereits am Donnerstag bei einem Gymnasium im
niedersächsischen Varel anonym eingegangen war ...
Die Betroffenheit ist groß, die Ratlosigkeit nicht minder. «Ich halte nicht
viel davon, jetzt über eine Änderung des Waffengesetzes zu diskutieren»,
warnte Elisabeth Jansen-Eschner im Gespräch mit der SZ. Vielmehr sieht die
Dezernentin Schulen und Verwaltung mehr denn je gefordert, mit einer
kompetenten und umfassenden Jugend- und Familienarbeit derartigen Taten
vorzubeugen.
Zwei Maßnahmen, die in anderen Bundesländern vor dem aktuellen Hintergrund
jetzt diskutiert werden, sieht Jansen-Eschner in Stolberg bereits
realisiert: «Der Ordnungspartnerschaft mit der Polizei und der Arbeit von
Mediatoren kommt angesichts der zunehmenden Gewaltbereitschaft an den
Schulen eine immer größere Bedeutung zu.»
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Konflikte lösen, bevor sie zu einem großen Problem werden: Sandra Müller (v.l.), Erik Bachmann
und Simone Beissel engagieren sich als Mediatoren am Goethe-Gymnasium. (Foto: M. Grobusch)
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Mediation, das heißt Vermittlung, ist an den beiden Stolberger Gymnasien
eine schon seit Jahren bewährte Praxis. Am «Goethe» bieten Simone Beissel,
Sandra Müller und Erik Bachmann ihre Hilfe zur Konfliktlösung an. Sie gehören
zu den derzeit zwölf aktiven Mediatoren, die in jeder großen Pause in einem
eigens eingerichteten Raum Sprechstunde halten. "Natürlich können wir nicht
ausschließen, dass so etwas wie in Erfurt auch bei uns passiert", weiß das Trio
um die begrenzte Wirkung ihrer Arbeit. Aber dennoch: "Nur wenn wir schon ab
der fünften Klasse versuchen, einen vernünftigen Umgang miteinander zu pflegen
und Wege aus Konflikten aufzuzeigen, kann man einer derartigen Eskalation von
Gewalt entgegenwirken." In der täglichen Arbeit habe sich gezeigt, dass viele
Probleme dann am besten gelöst werden können, wenn sie frühzeitig angegangen
werden. "Oft handelt es sich um Lappalien, die erst dann eine größere
Dimension bekommen, wenn sich niemand um sie und die betroffenen Schüler
kümmert", weiß Erik Bachmann. Ein halbes Jahr lang ist er gemeinsam mit seinen
elf "Kollegen" einmal wöchentlich von speziell geschulten Lehrern ausgebildet
worden. Aktives Zuhören, Kommunikation und Körpersprache standen dabei als
wichtige Punkte auf dem Programm.
Seit der Bluttat von Erfurt sehen sich die Mediatoren allerdings einer gewissen
Hilflosigkeit ausgesetzt. Simone Beissel: "Das betrifft nicht mehr nur die
Schüler, sondern auch die Lehrer. Wir müssen es in Zukunft einfach schaffen,
das Verhältnis zwischen beiden zu verbessern."
Und auch den Umgang der Schüler untereinander sieht die 16-jährige stark
verbesserungswürdig: "In jeder Klasse gibt es Leute, die gemobbt und
ausgegrenzt werden. Hier müssen wir uns alle an die Nase fassen und über unser
Verhalten nachdenken."
Aachener Zeitung, 30.04.2002